Aktuelles

In Tonstudio oder Labor: Welche Zeitstrukturen begünstigen kreative Prozesse? Wissenschaftler*innen erforschen Entrainment als Organisationsform von Kreativität

Kreativität ist kein linearer Prozess, lässt sich zu keinem Zeitpunkt gezielt abrufen und scheint einer möglichst effizienten, zeitlich klar strukturierten Arbeitsweise eher im Weg zu stehen. Wissenschaftler*innen der HafenCity Universität Hamburg (HCU), der Johannes Kepler Universität Linz (JKU) und der Freien Universität Berlin (FU) wollen dieses vermeintliche Spannungsfeld nun näher untersuchen. Denn eins ist klar: Um neue, bessere Lösungen zu finden, ist Kreativität unerlässlich.

Mitarbeiter vor Projektplanwand mit diversen Post-It-Zetteln

Bild: Jo Szczepanska/Unsplash

Die Zeitstruktur ist eine zentrale Herausforderung jeder Form kreativer Aktivität, sei es im Labor bei der Entwicklung eines neuen Medikaments oder bei Musikaufnahmen im Studio: Die beteiligten Akteure bringen unterschiedliche Zeithorizonte mit, arbeiten nach verschiedenen Rhythmen und Taktungen. Die Kreativitäts- und Organisationsforschung geht bisher davon aus, dass eine Synchronisierung, das sogenannte „Entrainment“, die Erfolg versprechende Strategie ist: Um möglichst effizient zu sein, wird der zeitliche Rahmen genau bestimmt. Beispielsweise werden zu einem vorgegebenen Zeitpunkt zu erreichende Meilensteine definiert, Prioritäten festgelegt und Fristen vereinbart. Das Problem: In einem solchen Zeitkorsett ist für Kreativität nur wenig Platz.

„Entrainment ist zwar im Hinblick auf Effizienz vorteilhaft, allerdings nicht notwendigerweise im Hinblick auf Kreativität“, so Prof. Dr. Gernot Grabher, der das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt „The Temporal Structuring of Creative Processes: Organizing Creativity through (Dis)Entrainment“ an der HCU betreut. Gemeinsam mit Prof. Dr. Elke Schüßler von der JKU und Prof. Dr. Jörg Sydow von der FU will der Professor für Stadt- und Regionalökonomie belegen, dass zeitliche Spannungen und Asynchronitäten nicht nur organisatorische Herausforderungen darstellen, sondern tatsächlich für die Kreativität genutzt werden können. Die Deutsche Forschungsgesellschaft DFG und der österreichische Wissenschaftsfonds FWF fördern das Projekt mit jeweils rund 225.000 Euro.

„Bislang wird Entrainment als organisatorische Praxis vor allem mechanistisch betrachtet. Das heißt, die zeitlichen Strukturen werden als extern gegeben wahrgenommen, ein aktives Spiel mit der Zeit ist nicht vorgesehen“, erklärt Grabher. Freiräume für kreative Prozesse entstünden aber häufig durch zeitliche Spannungen und Leerläufe, beispielsweise wenn Studiomusiker*innen in Aufnahmepausen anfingen zu improvisieren und daraus etwas Neues, Unvorhergesehenes entstehe. „Diese Interdependenz zwischen Entrainment und Disentrainment auf der einen und Kreativität auf der anderen Seite wollen wir systematisch untersuchen“, sagt Grabher.

Die Forschergruppe will kreative Prozesse in zwei sehr unterschiedlichen Wissensdomänen vergleichend analysieren: Zum einen im Bereich der Musik, zum anderen in der Pharmakologie. „Wir möchten überprüfbare Aussagen über den Zusammenhang zwischen zeitlichen Strukturen, Praktiken der zeitlichen Strukturierung und Kreativität entwickeln, um Entrainment nicht mehr nur als Form der Organisation von Effizienz, sondern auch von Kreativität zu theoretisieren“, so Grabher.

In der Praxis soll eine Vielzahl zuvor entwickelter Methoden und Werkzeuge zum Einsatz kommen, von explorativen Interviews über digitale Tagebücher bis hin zum sogenannten „shadowing“, also mehrwöchigen Beobachtungen und genauen Protokollierungen der Alltagspraxis etwa in Tonstudio und Labor. Geplant ist, sowohl zentralisierte Großorganisationen wie ein philharmonisches Orchester oder eine Universitätsklinik als Partner zu gewinnen, als auch dezentrale Netzwerke der freien Musikszene oder einen Campus für pharmakologische Forschung.